Gestalten um Nichts

 

Arbeiten von Wolfgang Ueberhorst

 

Zur Vernissage am 19. 11. 2005

 

 

Eine der Arbeiten von Wolfgang Ueberhorst trägt den Titel „Wesen, das selbst weiß, ob es wahr oder falsch ist“. Könnte man den Charakter eines Kunstwerks treffender wiedergeben? Jedes Kunstwerk ist ein Wesen. das selbst weiß, ob es wahr oder falsch ist, und stellt sich als solches einer Fremddeutung erst einmal entgegen. Nun könnte ich es uns leicht machen und sagen: Lassen wir also die Kunst, die Werke selber sprechen. Das sollen sie später natürlich auch. Da es aber gar nicht um wahr bzw. richtig oder falsch geht und da es mir auch nicht darum geht, eine Deutung an die Stelle der Kunst zu setzen, will ich mir doch ein paar Bemerkungen erlauben. Auf einzelne Objekte kann ich dabei schon deshalb nicht näher eingehen, weil ich - wie vermutlich die meisten von Ihnen - keine Ahnung hatte, welche Stücke aus dem umfangreichen Werk Wolfgang Ueberhorsts wir heute hier zu sehen bekommen würden. Um richtig oder falsch, um die Deutung kann es hier aber u. a. schon deshalb nicht gehen, weil Ueberhorsts Skulpturen in ganz herausragender Weise auf Offenheit angelegt sind. Sie sprechen den Betrachter an, um ein Spiel von, ein Bemühen um Deutungen in Gang zu setzen - keineswegs beliebig, aber doch so facettenreich, dass es nahe liegt zu sagen: Sie präsentieren das, was Kant eine ästhetische Idee genannt hat, ein Gebilde der Anschauung und Einbildungskraft, das viel zu denken veranlasst, das sich jedoch nicht auf einen bestimmten Begriff bringen lässt.

 

Das Fehlen einer verbindlichen Deutung, eines abschließend erklärenden Begriffs leitet mühelos über zu einem zentralen Gedanken dieser Werke und auch dieser Ausstellung: nämlich zum Nichts. „Gestalten um Nichts“ ist diese Ausstellung überschrieben, ein Titel, der vorgibt, als was ein großer Teil der Exponate aufgefasst werden soll, eben als Gestalten, als Produkte eines Gestaltens um Nichts oder um das Nichts. Zu gestalten um das Nichts bedeutet aber auch zu gestalten mit dem Nichts. Es bedeutet, in der Gestaltung so zu verfahren, dass das Nichts greifbar, sichtbar. dass es quasi ein Etwas wird. Robert Musil, Autor des unvollendeten Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“, hat diesen Gedanken auf den Punkt gebracht, wenn er Clarisse, eine seiner Romanfiguren, bei der Betrachtung ihres Eheringes sagen läßt: „[ ... ] in seiner Mitte ist doch nichts, und doch sieht es genauso aus, als ob es ihm nur darauf ankäme“ (MoE I, 369). Das gleiche trifft meines Erachtens auf etliche von Wolfgang Ueberhorsts Skulpturen zu: In ihrer Mitte ist doch nichts, und doch sieht es genauso aus, als ob es ihnen bzw. ihm, dem Künstler, gerade darauf ankäme.

 

Das Nichts der Bildhauerei, meine Damen und Herren, ist einerseits der Raum, andererseits die Welt der Bedeutungen, des Sinns, kurz: die geistige Welt. Das Etwas der Skulptur - das Eisen, die Bronze, der Stein - okkupiert, erfüllt, verdrängt den Raum. Über ihre Eigengestalt hinaus strukturiert die Skulptur den Umgebungsraum, teilt ihm ihre Dimensionen mit. Die Präsenz der Gestalt verdrängt, vernichtet den Raum; er ist das Nichts und wird, wie es scheint, noch einmal genichtet, negiert. Die Welt des Geistes wiederum kann ihrerseits das Material beherrschen: Ein eindeutiger Titel diktiert Produktion wie Rezeption des Werks. Die Skulptur kann sich aber auch in sinnlich-materieller Fülle gegen solche Besitznahme sperren, sie kann "ohne Titel" dastehen: als mehr oder weniger geformtes Eisen, mehr oder weniger bearbeiteter Stein usw. Hier wie dort als pure Realität, Präsenz, satte Seinsfülle.

 

Ohne auf die vielfältigen Formelemente einzugehen, die dabei zum Einsatz kommen, will ich doch behaupten, dass Wolfgang Ueberhorsts Skulpturen in der Mehrzahl anders „funktionieren“. Und grundlegend für diese Andersheit ist der hier zu findende Umgang mit dem Nichts, namentlich dem Raum. Durch die Gruppierung der Elemente seiner Skulpturen, durch unterschiedlichste Einschnitte, Durchschnitte, Ausschnitte gelingt es dem Künstler nicht nur, dass die Bestandteile der Objekte sich zueinander, zur Umgebung, zum Betrachter in Beziehung setzen. Statt die Dimensionen seiner Objekte an den Umgebungsraum lediglich mitzuteilen, gelingt es ihm, den Raum in sie, in die Gestalten hinein zu ziehen. Der Raum. das Nichts des Raumes, gerät auf diese Weise zu einem nahezu plastischen Teil, zu einem inneren Konstitutivum des bildhauerischen Objekts. Quasi sichtbar wird so das Nicht-Sichtbare, das gleichwohl immer die Voraussetzung für alles Sichtbare, für alle plastische Gestalt ist und immer schon war.

 

Wolfgang Ueberhorst schafft es damit, die in der Bildhauerei durch die Gestaltung selbst stets negierte, aufgehobene. genichtete Voraussetzung, die Möglichkeitsbedingung aller Gestaltung - den leeren Raum - vor Augen zu führen. Nicht ohne Doppelbödigkeit freilich: denn die Leere bleibt doch, was sie ist, von den Gestalten gilt nach wie vor, um Musil noch einmal aufzugreifen: in ihrer Mitte ist doch nichts.

 

Wichtig scheint mir hervorzuheben, dass mit einer solchen Sichtbarmachung des Unsichtbaren hingewiesen wird auf die Sphäre, das Medium, das in aller Gestaltung als Bedingung immer schon vorausgesetzt wird. Es wird hingewiesen auf den Horizont, vor dem wir uns in der Skulptur immer bewegen: Es ist der Raum. der die Gestalten und der ihre Beziehungen untereinander und zu uns Betrachtern möglich macht. Darin liegt zugleich ein Verweis auf den anderen Horizont, vor dem wir uns immer schon bewegen, der ebenfalls unsichtbar ist: d. i. der Horizont des Denkens. des Geistigen, von dem auf rätselhafte Weise auch die materielle Weit durchdrungen und geprägt ist. Und innerhalb des Denkens wiederum ist es der „leere Raum“ des Möglichen, des noch nicht fest gestellten Gedankens, der als Denkraum, als Denkhorizont alle konkreten Gedanken grundiert. Ich möchte meine Bemerkungen nicht zu einer philosophischen Vorlesung ausarten lassen. Aber gestatten Sie mir dennoch den Hinweis, dass Wolfgang Ueberhorst in seinen Skulpturen, im Miteinander von Materie und Raum, nicht zuletzt auch diese grundrätselhafte Verwebung von Materie und Geist vor Augen führt. Eingespannt in materielle Gestalten gewinnt der Raum, wie gesagt, objektive Kontur - er materialisiert sich in gewisser Weise; die nackte Materie, das Eisen, die Bronze wiederum wird gerade durch die leeren Räume organisiert, ihre Gestaltung, ihr Formenspiel und die Kommunikation der Formen untereinander finden im leeren Raume statt. Hier konzentriert sich gewissermaßen der „Sinn“, die formgebende Idee - eben so, als ob es „nur darauf ankäme“. Ein solche In-Beziehung-setzen antagonistischer Momente (Gestalt und Raum, Geist und Materie) werden Sie in Ueberhorsts Werken immer wieder finden, in der konkreten Formgebung, wo Eckiges auf Rundes, Komplexes auf Einfaches, geometrisch Klares auf grotesk Verwachsenes trifft. Nicht zuletzt begegnet uns die angesprochene Reflexion wieder als eine solche auf das Verhältnis von Kultur bzw. Technik und Natur. Alles Gegensätzliche existiert mit- und gegeneinander auf dem Boden einer gemeinsamen Wirklichkeit, und diese, meine Damen und Herren, sollte letztlich auch bei einer Betrachtung von Ueberhorsts Werken im Vordergrund stehen. Wovon ich gesprochen habe, ist zwar nicht nichts, es ist auch nicht unsichtbar. sondern, wie ich meine, in seinen Gestalten gerade sichtbar, sinnlich erfahrbar geworden. Aber dieses Unsichtbar-Sichtbare wird eben auf höchst lebendige, vielgestaltige, differenzierte Weise artikuliert. Es findet Ausdruck in der Auseinandersetzung mit ganz „reellen“ Themen wie der Liebe, der Anmut, der Verspieltheit und Erotik, aber auch der Deformationen des Menschseins, Gewalt und Tod. Ich wünsche Ihnen spannende und anregende Einblicke, Durchblicke und Einsichten. Vielen Dank.

 

Hans-Joachim Pieper

 

(November 2005)

 

 

 

Wolfgang Ueberhorst

„Kopffüßler“